Medienwerkstatt-Wien
 
Ausschnitt aus

 
MARIENTHAL 1930 - 1980
von Siegfried Mattl

Marienthal - ein Ortsteil der Gemeinde Gramatneusiedl im südöstlichen Niederösterreich, 23 Kilometer vor Wien. Nach wie vor gibt die Arbeitersiedlung aus dem 19. Jahrhundert dem Ort sein Gepräge. Ein Teil davon, straßenseitig gelegen, ist heute mustergültig renoviert. Der andere Teil - verfallen, wenngleich immer noch bewohnt - geht in der Ruinenlandschaft der alten Textilfabrik auf, die den Ort begründet hat. Das Erscheinungsbild hat sich hier nicht wesentlich geändert gegenüber 1979/80, den Monaten in denen das Medienkollektiv SYNC (1) ihre Videodokumentation über das Schicksal eines exemplarischen Industriedorfes am Ende des heroischen Zeitalters erstellte. Die ältere Dame in der langen, fast zweiminütigen Einstellung zu Beginn des Films spricht von Scham. Sie wird uns erst später als Marie Jahoda vorgestellt, die große Pionierin der Sozialforschung und illegale revolutionäre Sozialistin jüdischer Herkunft, die 1936 nach England ins Exil gehen musste. Die Scham, die sie anspricht, bezieht sich auf das Gefühl jener Gruppe junger Akademiker, die im Herbst 1931 mehrere Wochen in das geschlossene Arbeiter-Milieu des Dorfes eingebrochen sind um die Lebensgewohnheiten, Denkweisen und Mentalitäten von Arbeitslosen zu studieren. „Die Arbeitslosen von Marienthal“ sollte sich später als ein Stiftungstext empirischer Gesellschaftswissenschaft erweisen, auf dessen Spuren die Filmemacher sich bewegen. Zu den damaligen prekären Umständen und der Skepsis der Marienthaler hielt Lotte Schenk-Danzinger, die vor Ort die Untersuchungen durchführt hatte, fest, sie hätte die Befragungsergebnisse nachmittags als Gedächtnisprotokoll aufschreiben müssen, da andernfalls die Menschen sofort aufgehört hätten zu erzählen.(2)

Fünfzig Jahre und eine Medienrevolution danach hat sich dies geändert. Das Video-Team spricht von Neugier als Motivation seiner Dokumentation, und die Marienthaler haben keine Scheu vor der Kamera über sich zu sprechen, über ihre Wünsche, Pläne, ihre Arbeit, und über die kleinen alltäglichen Spannungen im Zusammenleben von Alteingesessenen und ArbeitsmigrantInnen. Das heißt: so viel zu sagen haben sie nicht, weil sie, wie die Videodokumentation implizit zeigt, schon in der „Posthistoire“ angekommen sind. Die Zukunft schrumpft auf den Horizont des Erwerbs von leicht gehobenen Konsumgütern und der Anhebung der Lebensbequemlichkeit.

In den ausgedehnten Anlagen der ehemaligen Textilfabrik hat sich ein kleines Chemie-Unternehmen eingenistet. Das immer wieder aufgegriffene filmische Panorama dieser Industrie-Archäologie bildet sich auch in den Erzählern ab: Es sind die Alten, die Zeitzeugen, die über die Vergangenheit berichten, über die großen Ereignisse von bewaffnetem Aufstand, Widerstand und - schließlich - Gestapo-Terror, und über das Leben ohne Verdienst, als man sich nicht einmal mehr eine Kinovorstellung leisten konnte. Die Ereignisse bleiben gegenwärtig als Legenden im besten Sinne des Wortes, auch wenn sie erst wieder in den Enkelkindern ihr Publikum finden, wie „Marienthal 1930-1980“ sachlich registriert.

Die Überlieferung will wissen, der charismatische Parteiführer Otto Bauer persönlich habe den jungen sozialistischen Wissenschaftern dringend nahe gelegt, statt über klassenspezifischen Modegeschmack und Schokoladekonsum über Massenarbeitslosigkeit und deren sozialpsychologischen Folgen zu forschen. Der „soziographische Versuch“, wie Jahodas Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ im Untertitel hieß, wurde zu einem Experiment, in dessen Verlauf die zuerst distanzierte Beobachtung zu konkreten Unterstützungsmaßnahmen hinführte: befreundete Ärzte hielten kostenlos Beratungsstunden ab, Kleider wurden gesammelt und verteilt ... Die Scham, von der Jahoda in der Dokumentation spricht, lässt sich indes und dennoch auch auf die geringen Effekte ihrer Studie hinsichtlich der Passivität beziehen, von der das Dorf der Arbeitslosen sukzessive erfasst worden war.

Die Videodokumentation „Marienthal 1930-1980“ weist eine überraschende Familienähnlichkeit mit diesem Experiment auf, eine Ähnlichkeit die sich zunächst auf die Entwicklung von Methoden bezieht. Hier wie dort kommen subjektive Zeugnisse neben objektiven Daten zum Einsatz, wechseln die Gegenstände und Themen, werden Reflexionen der Marienthaler mit moderierten Debatten und eigenen Analysen kombiniert. Zwar lässt sich ein ideeller und politischer Einfluss des französischen „cinéma vérité“ und des amerikanischen „direct cinema“ durchaus behaupten, dennoch steigerte die Gruppe SYNC mit dem Einsatz einer Vielzahl filmischer Mittel den Grad an Komplexität. Begünstigt von der fehlenden Tradition im nationalen Dokumentarfilm wie von den mangelnden Mitteln wird die angesprochene eigene Neugier zum Antrieb, das Medium selbst bis zu seinen Ursprüngen zurück zu verfolgen und in seiner industriellen wie sozialen und künstlerischen Dimension zu rekapitulieren. Das reicht von der Imitation des Skioptikons, mit dessen Hilfe alte Pläne und Ansichten von Dorf und Fabrik vergegenwärtigt werden, bis hin zur (trotz bescheidenerer Kamera-Optik) avancierten Schlusseinstellung, in der sich ein Road-Movie-Zitat mit Tableaux Vivantes der zurückbleibenden Dorfbewohner mischt. Video wiederum machte einen Schritt ins Neue möglich: die Einbeziehung der Marienthaler in die Entwicklung der Dokumentation über ein Feed-Back-Verfahren.

Markiert „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933) einen Einschnitt in der (österreichischen) Wissensproduktion (3), so setzt „Marienthal 1930-1980“ (im Verbund der autonomen Filmkollektive der späten 1970er Jahre) eine Zäsur in der Filmkultur. Heute ist diese Videodokumentation nicht nur ein Monument, das die Passage zur postindustriellen Gesellschaft festhält. Wenn die Schrift, wie es Lotte Schenk-Danzinger gesehen hat, eine Barriere zwischen der Gemeinschaft und dem Außen errichtete, so nutzt „Marienthal 1930-1980“ das gegenläufige Potential der Videografie, den Menschen zu ihrer eigensinnigen Sprache zu verhelfen. Doch dieses Potential muss immer wieder neu entdeckt werden.


(1) Ein Flyer kündigte für 3.6.1980 die Vorstellung einer „Vorausdokumentation“ mit einer Laufzeit von drei Stunden an. (SYNC = Martin Adel, Birgit Flos, Michael Freund, Edith Haas, Janos Marton, Gerhild Ohrnberger, Elizabeth Sacre, Robi Schächter)

(2) Siehe Christian Fleck: Rund um „Marienthal“. Von den Anfängen der Soziologie in Österreich bis zu ihrer Vertreibung, Wien 1990, S. 171

(3) Ausführliche Dokumentation zur Studie unter http://agso.uni-graz.at/marienthal/studie/00.htm